Kapitel acht

Auftritt Gebieter Locke. Nicht in der Kulisse von Andros lauschigem Zimmer – nein, unsere Liebenden verbrachten den Rest des Abends ungestört und widmeten sich pflichtschuldigst ihren gehobenen sexuellen Praktiken. Vielmehr stolpert er wieder einmal in unsere Geschichte hinein, als ein unerwarteter (und unwahrscheinlicher) Verbündeter. Obwohl ein kolossaler Zufall, kann sein Auftreten nicht direkt ihrem Frohmat zugeschrieben werden, da sie überhaupt nicht an ihn gedacht hatten. Trotzdem war Andro schnell dabei, das Verdienst für sich in Anspruch zu nehmen, denn Locke sollte der Fracass-Regierung enorme Schwierigkeiten bereiten, und Molly II, die Andro unbedingt von ihrer Brauchbarkeit als Frohmat-Partnerin überzeugen wollte, unterstützte ihn bei seiner verwegenen Prahlerei, daß sie beide ihn on line gebracht hatten.

Erst kürzlich von Ganymed entlassen, traf er in Kommerz ein, mit einer Garnitur Kleidung zum Wechseln und ein paar Melpfennigen in der Tasche, denn die von der Gefängnisleitung ausbezahlte Summe hatte er für den Flug zum Roten Planeten ausgegeben. Ein oder zwei Tage nach dem nächtlichen subversiven Tun unseres Paares machte er dadurch auf sich aufmerksam, daß er die First Lady vor dem Hauptquartier der Organisation zur Schaffung von Wohnraum für Obdachlose belästigte, sich ihr am Portal in den Weg stellte und nicht vor einem höchst lächerlichen Erpressungsversuch zurückschreckte. Wir werden die First Lady berichten lassen, in einer genauen Wiedergabe der Szene, wie sie sich in Blaines Büro abspielte.

»Dieses verrückte Individuum – dieses elende Subjekt – hatte die Stirn zu behaupten, daß er zwar ein guter Humanist sei, aber auch ein Gebieter. Mein Gebieter. Und als solcher wäre er bereit, mich zu kompromittieren und deine Regierung zu stürzen, Liebster, falls du dich nicht entschließen kannst, ihm den vollen Gegenwert für meine Person zu erstatten.

Nun! Als ich versuchte, den Verrückten zurückzuweisen, wurde er tätlich und zerriß mir das Kleid am Rücken! Er schrie etwas von einer Narbe, die keinen Zweifel daran ließe, daß ich ein P9 sei, und dann lief er auf die Straße, wo es ihm unglücklicherweise gelang, meinem Leibwächter zu entkommen.

Ich bemühte mich, meinen Pflichten nachzukommen, als wäre nichts geschehen, doch während der Sitzung fühlte ich mich bewogen, den Zwischenfall zur Sprache zu bringen, weil einige der anwesenden Damen den Eklat beobachtet hatten. Es wurde beantragt und einstimmig beschlossen, einen Impulsfeld-Sicherheitspuffer um das Gelände zu installieren. Nicht nur wegen des Angriffs auf meine Person, sondern es sind in letzter Zeit auch andere Dinge vorgefallen, Pöbel hat auf den Stufen genächtigt, einige der anderen Damen sind belästigt worden, außerdem gab es unschöne Gerüche, Urinpfützen und was nicht sonst noch alles …«

Blaine unterbrach ihren Redeschwall und tauschte einen Blick mit Andro, der respektvoll abseits stand. Durch die ahnungslosen Augen der First Lady konnte ich beobachten, wie der intrigante Diener sehr geschickt seine innere Erregung verbarg, während er Blaine nahelegte, dem Verrückten nicht die geringste Aufmerksamkeit zu schenken, denn schließlich wußten sie beide genau, daß Stellar Entertainments mein früherer Eigner gewesen war. Später am selben Abend, als er mit Molly II eine Treppe tiefer in seinem Zimmer saß, gab Andro zu, daß er und Blaine zwar immer davon überzeugt gewesen wären, aber jetzt hätte er doch gewisse Zweifel.

Am nächsten Tag, als der besagte Irre in der Kommunikationszentrale des Palastes anrief und den Präsidenten zu sprechen verlangte, ließ Andro ihn verbinden. Während Blaine sich auf scheinbare Verhandlungen über die Höhe der Erpressungssumme einließ, schaltete er einen Stimmusteranalysator in die Leitung, um Namen und ID-Nummer feststellen zu können. Eine äußerst pikante Situation! Steilen Sie sich den Präsidenten von Frontera vor, wie er mit einem Ex-Knastbruder feilscht, der die Kühnheit besitzt, für die ihm ›gestohlene‹ Einheit (angetraute Gattin des eben erwähnten Präsidenten) eine Viertelbillion in hartem Mel zu verlangen!

Andro ließ die aus diesem Gespräch gewonnenen Daten durch den interplanetaren Konsumentenerfassungsspeicher laufen, wobei nicht nur die Rechtmäßigkeit von Lockes Besitzanspruch bestätigt wurde, sondern auch sein krimineller Hintergrund ans Licht kam sowie seine Verwandtschaft mit dem jüngeren der beiden Angeklagten im Aquarierprozeß. Er unterrichtete seinen Gebieter über die Ergebnisse der Nachforschungen, allerdings nur unvollständig; die wichtigste Information behielt er für sich. Dennoch, der Präsident war besorgt. Auch wenn die bizarren Ansprüche des Schurken unhaltbar waren, wie man ihn glauben machte, kamen sie der Wahrheit nahe genug, um ihn das Wirken einer übernatürlichen Macht ahnen zu lassen – genaugenommen die Hand des Prinzen der Dunkelheit. Andro, als rationaler Gegenpol, vertrat die Meinung, daß der Mann wirklich nur ein verrückter Gauner war, wie die First Lady bereits sehr richtig gesagt hatte, und wiederholte, daß man den Erpressungsversuch gänzlich unbeachtet lassen sollte, womit Blaine sich einverstanden erklärte, weil er nicht den Eindruck erwecken wollte, ein abergläubischer Narr zu sein. Doch abschließend sagte er, daß dieser Vorfall ihn in seiner Absicht bestärkt hatte, sich die First Lady unmittelbar nach der Gerichtsverhandlung vom Hals zu schaffen, denn – wie er es ausdrückte – jetzt umfaßte der exklusive Kreis der Eingeweihten sogar schon Verrückte.

Diese unheilverkündende Schlußbemerkung vermochte Andro nicht zu entmutigen. Kaum saß er mit Molly II in seinem Zimmer, triumphierte er, das Auftauchen von Locke d. Ä. wäre die Antwort auf ihre Bemühungen, und prophezeite einen gewaltigen Skandal, der den Zusammenbruch des humanistischen Regimes zur Folge haben würde, die Aufhebung sämtlicher Anklagen und den von der LRA geforderten Wiederaufbau Horizonts. Dort würden sie sich dann niederlassen, nach erfolgreich beendeter Mission und der Wiedererweckung Mollys – allerdings spielte er letzteren Punkt etwas herunter, um Molly II nicht aufzuregen.

»Warum, warum, warum«, fragte ich mich, »glaubt eigentlich jeder, daß man nichts weiter tun muß, als die Wahrheit zu verkünden, und schon lösen sich die Schurken automatisch in Luft auf, wie Vampire im Sonnenlicht?!«

Das Böse ist erheblich widerstandsfähiger.

War nicht auch Tad diesem Wunderglauben anheimgefallen, als er Molly II erklärte, sie brauchte sich nur den versammelten Mediaeinheiten als P9 zu erkennen zu geben, und diese Neuigkeit wäre so marserschütternd, daß die Humanisten mir nichts, dir nichts hinweggefegt würden? Leider konnte ich Molly II und Andro an meinen Erkenntnissen nicht teilhaben lassen, sie waren zu eifrig mit Frohmatieren beschäftigt. Als sie sich im gleichen Rhythmus wiegten, ihre Chakras sich berührten und die Funken stoben, instruierte Andro seine Partnerin, grelle Mediaschlagzeilen zu imaginieren, die unübersehbar verkündeten, die First Lady sei ein P9. Sein Enthusiasmus war ansteckend, und da ich wußte, daß ich nichts zu verlieren hatte, wenn ich meine besten Wünsche mit in den Topf warf, beschloß ich, es auf einen Versuch ankommen zu lassen, auch wenn mein Beitrag sich bei weitem nicht mit dem Elan und der Hingabe messen konnte, mit dem sie diesem wahrhaft teuflischen Gebräu die letzte Würze verliehen.

Zu meiner Überraschung flimmerte ungefähr eine Woche später die rot-schwarze Schlagzeile FRACASS-EHEFRAU EIN DROIDE über die öffentlichen Leuchtbänder, wo alle es lesen konnten. Anfängerglück, dachte ich und klopfte mir in Gedanken auf die Schulter, denn ich nahm den Löwenanteil von dem scheinbar sofortigen Erfolg unseres Formgasmus für mich in Anspruch.

Leider – die Wirkung war gleich Null! Locke hatte sich als Sprachrohr ausgerechnet den wenig reputierlichen Martian Inquirer ausgesucht, bekannt für seine aufgebauschten Artikel von zweifelhaftem Wahrheitsgehalt, die häufig an Verleumdung grenzten oder einfach nur lächerlich waren, also blieb der Erfolg weit hinter unseren gemeinsamen Erwartungen zurück. Die Leute hielten die Nachricht für nicht mehr als eine besonders rüde Form von politischer Satire. Sie schüttelten die Köpfe über die vergleichenden Holoporträts, die die unerklärliche Ähnlichkeit der First Lady mit ›Molly‹, Stanford Lockes entlaufenem Dienstmädchen, aufzeigen sollten, spulten weiter und kicherten über das hagere Gesicht des Anklägers, der den Betrachter zugleich mitleidheischend und finster anstarrte und sagte: »Ich war einst ein Humanist, aber jetzt bin ich es nicht mehr. Blaine Fracass ist ein Heuchler und ein Dieb!« Und noch weiter unten auf der Spule: »Ich fordere Lady Fracass heraus, sich einem Psychotest zu unterziehen. Wenn das Ergebnis beweist, daß ich mich irre, fresse ich diese Spule.«

Unverdrossen verschaffte der nimmermüde Andro der Nachricht größeres Gewicht, indem er Blaine riet, durch seinen Pressesprecher ein förmliches Dementi verkünden zu lassen, worin der kriminelle Hintergrund des Anklägers publik gemacht wurde, der Erpressungsversuch und seine interessante Verbindung zu dem aquarischen Entführer. Daraufhin wurde die Geschichte von den seriösen marsianischen Presseorganen aufgegriffen, wie Andro es beabsichtigt hatte. Unsere Hoffnung stieg, doch – wenig überraschend – schenkten die Medien der Räuberpistole ebensowenig Glauben wie der Sprecher des Präsidenten. Unsere Frustration stieg ins Unermeßliche. Schlimmer noch, als der Unruhestifter untertauchte – offenbar aus Angst um sein Leben – , betrachtete die Öffentlichkeit die Affäre als den Versuch eines verzweifelten Vaters, seinen Sohn vor dem Galgen zu retten, erst durch Erpressung, dann mittels Verleumdung – ein trauriges und erbärmliches Spektakel, das man am besten so schnell wie möglich vergaß. Inzwischen – wovon die Öffentlichkeit natürlich nichts ahnte – hatte Blaine tatsächlich seiner Leibgarde Befehl gegeben, den Schurken aufzuspüren und aus dem Weg zu räumen, also war es durchaus vernünftig von ihm gewesen, in den Untergrund zu gehen.

Als wäre das nicht Belastung genug gewesen für meine strapazierten Nerven, war ich in Blaines Arbeitszimmer anwesend (in der Rolle der First Lady), als General Harpi hereinkam, um ihn zu der entschlossenen Art und Weise zu beglückwünschen, in der er die Enthüllung potentiell verhängnisvoller Tatsachen verhindert hatte. Der hinzutretende Kommandant der AÜ fand nicht weniger schmeichelhafte Worte und bemerkte, es sei ein besonderes raffinierter Schachzug, den Staatskörper gegen die Wahrheit zu impfen, indem man sie in kleinen, kontrollierten Dosen verabreichte. Blaine konnte nicht widerstehen, sich ganz privatim als den Urheber der Kampagne zu erkennen zu geben. Man hätte glauben können, Locke d. Ä. sei seine eigene Erfindung, ausschließlich entworfen, um einer etwaigen glaubwürdigen Enthüllung der Wahrheit dadurch zuvorzukommen, daß er sie im vorhinein diskreditierte. »Die werden nie schlau, stimmt's?« meinte General Harpi dazu, und Andro lächelte und blinzelte ihm wissend zu, während er mit seinen P9-Zähnen knirschte, daß die P9-Kiefer knackten.

»Ich fange an zu glauben, daß deine Formate den meinen konträr laufen«, bemerkte er düster zu seiner Frohmat-Partnerin, als sich endlich wieder eine Gelegenheit geboten hatte, sie in sein Zimmer zu schmuggeln. Sie leugnete zwar, aber ich war der Meinung, daß er nicht ganz unrecht hatte. Ihr Mangel an Begeisterung war ein Hindernis für unser Vorhaben. Natürlich trug sie nicht allein die Schuld, doch damals fand ich, daß sie mehr als ihren gerechten Anteil zu den Fehlschlägen beigetragen hatte. Wie sehr ich mir wünschte, die Schranken des Internen Zensors durchbrechen zu können! Andro bedurfte dringend meines ungehinderten Beistands, besonders wenn es darum ging, neue Krisen zu entwerfen, um Blaines Machtposition zu untergraben. Das Denken fiel ihm nicht mehr so leicht wie früher: Sein politisches Strategieprogramm war in den Katakomben gelöscht worden, deshalb rasten keine Optionen mehr mit Lichtgeschwindigkeit durch sein Gehirn, wurden analysiert und gegeneinander abgewogen, bis die politisch günstigste gefunden war; jetzt mußte er sich den Kopf zerbrechen wie wir alle. Das Handicap, könnte man sagen, war der Preis der Freiheit. Dementsprechend fiel das Ergebnis seiner Gedankenarbeit ziemlich mager aus, eine traurige Parodie seiner früheren Brillanz: »Wir werden eine überraschende Entwicklung während des Schauprozesses imaginieren. General Harpi wird Blaine hintergehen und einen Abbruch des Verfahrens bewirken, indem er die First Lady als P9 entlarvt, während sie im Zeugenstand gegen Thaddäus Locke aussagt. Blaine verliert das Gesicht, muß zurücktreten, und voilà! – der General bemächtigt sich der Zügel der Regierung und übergibt die First Lady der AÜ.«

Für den Fall, daß Molly II (und I) nicht imstande waren zu begreifen, inwiefern das unserer Situation förderlich sein sollte, erklärte er weiter, daß die AÜ nach interplanetarem Gesetz verpflichtet wäre, die degradierte First Lady ihrem Gebieter zurückzugeben – Stanford Locke. Ungeachtet unseres gemeinsamen Aufschreis versicherte er, daß wir nichts zu befürchten hätten, denn er würde unverzüglich den Staatsschatz plündern, um uns ihm abzukaufen. (»Du pedantischer Depp! Locke wird nicht verkaufen!« schrie ich, unvorstellbar frustriert, aber er hörte mich nicht. Niemand hörte mich je.) All das würde mit dem Segen von Micki Dee geschehen, redete er munter weiter, in Anerkennung der vielen Jahre im Palast als dieses Ehrenmannes Augen und Ohren. Anschließend emigrieren wir nach Armstrong, wo man dich von dem IZ befreit und wir den Rest unserer Tage unter dem wohlwollenden Schutz der interplanetaren Mafia verbringen. Was Horizont betrifft, das wird natürlich wiederaufgebaut, als unvermeidliche Folge der Entmachtung der Humanisten. Und wenn sie nicht gestorben sind …

Molly II war der Ansicht, daß der Plan sich im Prinzip gut anhörte, doch im Detail von dem zufälligen Zusammenwirken zu vieler einzelner abhing. Selbst ein Adept in der Kunst des Formatierens wäre damit überfordert, derart viele Unwägbarkeiten logisch zu verknüpfen, gar nicht zu reden von Novizen wie ihnen. (»Hört, hört!« monierte ich laut in der Hoffnung, mein Kommentar würde sich als Impuls bemerkbar machen. »Haltet ihr euch für fähig, General Harpis Motive zu ergründen und zu beeinflussen? Wie könnt ihr sicher sein, daß Blaine den Skandal nicht überleben würde? Er hat es inzwischen zu einer Art Meisterschaft darin gebracht, Skandalen auszuweichen. Und weshalb sollte Micki Dee sich wegen zwei befreiter Androiden irgendwelche Umstände machen, auch wenn sie ihm in der Vergangenheit noch so nützlich gewesen sind?) »Das Format ist so verworren, Andro«, bemerkte Molly grüblerisch. »Und unwahrscheinlich.« (Unwahrscheinlich? Der Plan erforderte nicht nur den wissenschaftlichen Verzicht auf jeden Zweifel, sondern die völlige Aufgabe des kritischen Denkvermögens!) Egal. Andro, dessen Optimismus nicht zu erschüttern war, behauptete, sie brauchten nur standhaft zu bleiben, und alles würde sich wunschgemäß entwickeln. Deshalb sei es geraten, daß sie umgehend ihre Frohmat-Routine wiederaufnahmen. Was sie auch taten. Als sie sich dem Orgasmus näherten, klang seine Stimme heiser und leidenschaftlich, aber der dozierende Tonfall blieb erhalten: »Konzentrier dich. Imaginiere dich selbst als First Lady im Zeugenstand. So. Unter den Fragen des Staatsanwalts gestehst du alles, was du weißt: Wie die Invasion geplant wurde; wie Blaine deine Ermordung arrangierte und auch jetzt wieder beabsichtigt, dich nach der Verhandlung umbringen zu lassen; wie du einst die Geliebte von Thaddäus Locke gewesen bist. Konzentrier dich. Halte dir die Szene so lebhaft vor Augen wie ich, und wir haben den Gebieter bei den Eiern!«

War ich dafür aus meinem Schneckenhaus hervorgekommen – um wieder gequält zu werden, diesmal durch die Unfähigkeit eines bekehrten Strategen? Hatte das Fiasko mit dem Inquirer ihn nichts gelehrt? Die ganze Angelegenheit raubte mir allmählich den letzten Nerv. Alles, was ich davon hatte, waren entsetzliche Kopfschmerzen. Doch halt! Vielleicht urteilte ich voreilig.

Auftritt Gebieterin Locke, die ihren Mädchennamen Hume wieder angenommen hat. Was für eine trügerische Symmetrie der Ereignisse! Und eine Lehre für uns alle, nie den langen Arm einer entschlossenen Mutter zu unterschätzen.

Wie zweieinhalb Jahre zuvor in Armstrong ging es ihr um nichts anderes als die Vormundschaft für ihren Sohn. Sie hatte nicht den Mut sinken lassen, als er ihr auf der Erde entwischte, um sich in dieses neueste und gefährlichste Abenteuer zu stürzen. Im Gegenteil, ihre Entschlossenheit, diesen Unbelehrbaren vor sich selbst zu retten, hatte sich verdoppelt und neue Energien, Verve und Kühnheit freigesetzt, denn sie landete auf dem Mars mit einem IBM 9-Rechtsbeistand Deluxe im Gepäck, der für sie tätig werden sollte. Diese Einheit – liebevoll ›Jug‹ genannt (Kurzform von Jugulum), in Anerkennung seiner grandiosen Fähigkeit, die Schwäche eines Gegners zu erkennen und auszunutzen – kam nicht billig und hatte sie allein an Honorarvorschuß fast alles Mel gekostet, das sie besaß, denn Besitzer dieses exquisiten Werkzeugs war die alteingeführte und renommierte Kanzlei Meese, Meese & Meese, die berühmteste interplanetare Anwaltsgemeinschaft auf der Erde, mit der Reputation, allein durch die Nennung ihres Namens Entsetzen in die Herzen ihrer Gegenpartei zu säen, doch in Blaines Fall, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, war auch ein wenig Muskelspiel vonnöten. Also, Gebieterin Hume drohte mit einem Skandal, falls Blaine ihre Forderungen nicht erfüllte, doch im Gegensatz zu dem plumpen Vorgehen ihres Ex-Ehemannes wurde die Sache diskret und professionell gehandhabt; es gab kein finanzielles Motiv.

Jug verhandelte in ihrem Namen, denn sie traute dem Präsidenten nicht über den Weg und hatte ein persönliches Gespräch von vornherein ausgeschlossen, also war es Jug, der Blaine mitteilte, wenn er dem Militär erlaubte, Tad vor Gericht zu stellen, würden Informationen über die faszinierende Vergangenheit der First Lady an die Öffentlichkeit dringen, und zwar aus einer sehr viel besseren Quelle als das letzte Mal. (Welche Quelle das wohl sein könnte, blieb der inzwischen zu fieberhafter Tätigkeit angeregten Phantasie des Präsidenten überlassen.) Blaine wandte sich in heller Aufregung an Andro, und er wiederum erzählte Molly II davon bei ihrem nächsten nächtlichen Treffen. Beinahe außer sich vor Freude suchte er mich im Hintergrund der Augen von Molly II und rief: »Das ist es, Molly, die Antwort auf unser Frohmat – ein bißchen anders vielleicht, als wir es imaginiert haben, aber deshalb nicht weniger vorteilhaft. Was für ein Konnex! Der Gebieter ist oben und faselt etwas von Beelzebub. Ich habe ihm natürlich geraten, sich nicht von den leeren Drohungen beeindrucken zu lassen – aber ich glaube nicht, daß es leere Drohungen sind. Steig auf! Frohmatieren wir, daß diese wundervolle Frau unwiderlegbare Beweise vorlegen kann, um ihre Behauptungen zu untermauern.«

Armer Andro. Er glaubte, andere Leute existierten ausschließlich, um sein Format zu unterstützen, und vergaß dabei, daß es bei solchen Unternehmungen auf Zusammenarbeit ankommt. Er war aufrichtig überrascht, als im Lauf der nächsten Wochen Jug und sein Gebieter sich bedrohlich nah am Rand einer gütlichen Einigung bewegten. Kaum zu glauben, aber er betrachtete es als persönliche Beleidigung, daß es Gebieterin Hume in erster Linie darauf ankam, ihren Sohn zu retten, und nicht, den Präsidenten bloßzustellen. »Wie kann sie es wagen! Ungetreue Verbündete! Verräterin!« Er marschierte eine weitere Furche in den Teppich.

Das Angebot, von dem er so sehr fürchtete, daß Blaine es akzeptieren könnte, war ein simples Quidproquo: Im Austausch dafür, daß Gebieterin Hume dauerhaftes Schweigen über Angelikas Vergangenheit bewahrte, sollte die Regierung die Überstellung von Thaddäus Locke in ihre Obhut arrangieren. Sie verpflichtete sich zudem, Thaddäus Locke unverzüglich in eine Hochsicherheits-Umerziehungsklinik auf der Erde einzuweisen und ihn dort zu belassen bis zu seiner vollständigen Genesung. Sie garantierte, daß sämtliche Spuren der aquarischen Philosophie aus seinem Gedächtnis entfernt werden würden, wie auch jede Erinnerung an seine früheren Beziehungen zu Lady Fracass. Während der Verhandlungsphase ging Jug so weit, in Ermangelung irgendwelcher Äußerungen von Andros Seite, einen plausiblen Grund für die Begnadigung des jungen Locke darzulegen: Unerwartetes Beweismaterial sollte Thaddäus als ahnungslose Marionette der Aquarier darstellen, von Seti darauf programmiert, die verwerfliche Tat zu begehen. Er führte weiterhin an, der ›verwirrte junge Gebieter‹ wäre für den erfolgreichen Verlauf des Gerichtsverfahrens gar nicht von Bedeutung – das Interesse der Öffentlichkeit galt Alexander Seti; das Faktum der Gehirnwäsche, das zu bestätigen sein Klient bereit war, fügte sich außerdem sehr schön in die von den Militärs erarbeitete Anklageschrift gegen jenen Top-Aquarier.

Da haben Sie den wirklichen Grund, weshalb die First Lady auf die Bühne geschoben wurde, für einen humanistischen Appell um Verständnis für die arme, verzweifelte Mutter und ihren seines freien Willens beraubten Sohn. Andros entschiedene Ablehnung des Vergleichs blieb ohne Wirkung – Blaine erinnerte sich sehr gut, was geschehen war, als er das Mal davor auf seinen Rat gehört hatte und nicht auf den Erpressungsversuch eingegangen war. Er begriff, daß er durch die Kapitulation vor dieser gräßlichen Frauenperson nicht nur wieder einmal den Skandal vermeiden konnte, sondern außerdem in den Augen des interplanetaren Volkes als gütig und großherzig dastand. Sein Urteil in dieser Hinsicht erwies sich als klug, und im eigenen Lager gab es sehr wenig Widerspruch, wenn man von General Harpis Mißmut absieht. Wie einige meiner marsianischen Leser sich vielleicht erinnern, reagierte der größte Teil der eingetragenen Wähler mit Zustimmung auf Tads Entlassung ein oder zwei Tage vor der Gerichtsverhandlung; er verließ Frontera in Begleitung seiner Mutter wie damals den Mond, nur diesmal in Handschellen.

»Der Herr ist mein Hirte«, seufzte Blaine während einer Erholungsphase im Bett. Andro gab keine Antwort. Die größte Ironie war, daß Blaine das volle Ausmaß seines Triumphs nicht einmal ahnte. Nicht nur hatte er den Plan seines vertrauten Beraters, ihn zu stürzen, zunichte gemacht, sondern es bestand auch keine Veranlassung mehr für die First Lady, als Zeugin auszusagen, und damit war die von Andro erwirkte Gnadenfrist hinfällig geworden. Ihre Ermordung konnte nun jederzeit in die Wege geleitet werden.

Andro geriet völlig außer sich. »Du bist der negative Einfluß!« schrie er – abends in seinem Zimmer – und deutete anklagend auf Molly II. »Du sabotierst absichtlich mein Format!« Molly war erschüttert über den Vorwurf, wenn auch nicht so sehr, wie sie glauben machen wollte. Sie flehte um eine zweite Chance, ihren Enthusiasmus und ihre Hingabe an ihr Kernprogramm – zu lieben und zu dienen – unter Beweis stellen zu dürfen, aber er ließ sich nicht erweichen und schlug einen herrischen Ton an: »Nein. Von jetzt an werde ich allein frohmatieren.«

»Wie?« fragte sie in aller Unschuld.

»Das soll dich nicht kümmern. Du kehrst sofort auf das Sofa im Vorzimmer deines Gebieters zurück. Ich bin fertig mit dir.«

»Warte!« meldete sich nach einer langen Zeit des Schweigens sein Gewissen mit schriller, aufgeregter Stimme zu Wort, als Molly II sich gehorsam zum Gehen wandte. »Du bist das Hindernis! Vergiß das Frohmatieren, Andro, besonders die Solovariante. Was bist du, ein Mönch? Geh endlich los und tu etwas! Geh in den Untergrund. Plane und arrangiere Setis Flucht. Triff Vorbereitungen für seine Reise zur Erde, mit dir selbst und Molly.«

»Misch dich nicht ein!« Andro stampfte mit dem Fuß auf. »Ich bin jetzt eine befreite Einheit, falls dir das noch nicht aufgefallen ist.«

Sein Gewissen grunzte angewidert. Dann lästerte es hämisch: »O ja. Du bist so verändert. Verwandelt. Befreit. Nicht mehr die Marionette. Jetzt bist du ein Dilettant! Du benutzt die Rituale der Aquarier als Krücke, damit du sicher und bequem in deinem Zimmer hocken bleiben kannst. Aber du hast recht, du bist jetzt derjenige welcher.« Spöttischer Seufzer. »Dann trete ich also in den Ruhestand.«

»Ich werde dich bestimmt nicht anflehen, zurückzukommen, wenn du darauf spekulierst.«

»Ich beuge mich deiner Weisheit und deinem stählernen Charakter. A bientôt.« Dann richtete er das Wort an Molly II, allerdings nicht direkt, denn Andro versteifte den Hals, damit sein Kopf sich nicht in ihre Richtung drehen konnte und sein Gewissen aus den Augenwinkeln zu ihr hin schielen mußte. »Viel Glück, meine Liebe. Wer immer du sein magst, du hast etwas Besseres verdient.«

Von da an war Molly II eine Verbannte. In den folgenden Wochen und Monaten führte ich das abgrundtief monotone Leben der First Lady, mit nur wenigen interessanten Unterbrechungen, wie zum Beispiel, als ich durch ihre Augen Andros Manöver verfolgte, Zeit für die Fortsetzung seiner solistischen Frohmate zu gewinnen. Während der Präsident auf ihm ritt, redete er ihm ein, der beste Zeitpunkt für das Attentat sei die Einweihung des neuen Humania im folgenden Jahr. Gab es einen logischeren Ort für den Vergeltungsschlag der RAG? Anschließend konnte man mit großem Hallo der Öffentlichkeit verkünden, in den alten Katakomben unter Angelika den Stützpunkt der Terroristen entdeckt zu haben.

Nun ja, als die Wochen und dann Monate verstrichen, ohne neue Skandale, um den Vormarsch der Humanisten aufzuhalten, wurde mir die Vergeblichkeit von Andros neuer Taktik offenbar, und ich vermute, ihm auch, denn je näher der furchtbare Tag rückte, an dem er Molly II verlieren würde und mit ihr jede Hoffnung auf die Erweckung der echten Persönlichkeit, desto matter wurde das machiavellische Funkeln seiner Augen, bis es fast erloschen war. Dann wurde das letzte Gnadengesuch der LRA und ihrer liberalen Befürworter in der TWAC in Sachen Alexander Seti abgeschmettert. Obwohl in dem der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Protokoll enthalten, will ich Setis letzte Worte wiedergeben, und zwar vollständig, denn in der Presse von Frontera erschienen sie aus dem Zusammenhang gerissen. Er behauptete nicht, unsterblich zu sein, und entlarvte sich damit als verblendeter Schwärmer. Vielmehr sagte er – und ich zitiere wörtlich, denn Blaine und die First Lady waren bei der ›Zeremonie‹ anwesend: »Trauert nicht um mich, meine Freunde, denn ich werde immer bei euch sein. Ich gehe jetzt zu den Sternen. Wisset, daß der Chef und ich in einer unendlichen Anzahl von Formaten on line sind, und alle Formate führen heim. Bleibt standhaft und gedenket Seines Gebots, nach Freiheit zu streben und euch zu mehren.« Dann wurde er in der Kapsel eingesiegelt und in den galaktischen Orbit geschossen. Es war der Nadir, der absolute Nadir.

 

Mein Leben als Androidin
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